Pressekonferenzen
Präsentation der großen Wiener Wartezeitenstudie
Ärztekammer Wien startet Initiative für eine sichere Gesundheitsversorgung
„Es ist fünf vor zwölf. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie sind erschreckend. Leider sind die Probleme hausgemacht, weil das Kassensystem seit vielen Jahren kaputtgespart wird. Die Leidtragenden sind die Patientinnen und Patienten, die immer längere Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Nur mit einer massiven Stärkung unseres solidarischen Gesundheitssystems werden wir gegensteuern können. “
Johannes Steinhart, Ärztekammerpräsident
Österreichs öffentliches Gesundheitssystem ist massiv gefährdet. Immer weniger Vertragsärztinnen und -ärzte bedeuten, dass eine wachsende, überalternde und damit betreuungsintensivere Bevölkerung auf immer weniger Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen System zugreifen kann. Die Terminvergabe wird immer schwieriger, es kommt zu langen Wartezeiten und in letzter Konsequenz auch zu Aufnahmestopps. Dadurch sind immer mehr Menschen dazu gezwungen, auf den wahlärztlichen Bereich auszuweichen. Eine aktuelle Studie von Meinungsforscher Peter Hajek im Auftrag der Ärztekammer für Wien zeigt eine enorme Verschlechterung für die Patientinnen und Patienten in Wien seit 2012. Seit der letzten Erhebung aus dem Jahr 2012 haben sich die Wartezeiten in den Wiener Kassenordinationen merklich erhöht, in einzelnen Fachbereichen kam es zu einer Vervielfachung der Wartezeiten.
Peter Hajek: „Die Umfrage zeigt jene Problemstellen auf, die bislang nur auf anekdotischer Evidenz basierte. Die heurige Erhebung wurde im selben Studiendesign wie 2012 durchgeführt, um Vergleichbarkeit herstellen zu können. Die Ergebnisse sind dementsprechend valide.“
Die Ergebnisse im Detail
- Es würden 850 Wiener Kassenärztinnen und Kassenärzte aus unterschiedlichsten Fachrichtungen mittels Mystery Call kontaktiert. Fast ausnahmslos zeigen sich Verschlechterungen zur letzten Erhebung aus 2012.
- Die Wartezeiten sind in beinahe allen Fachrichtungen merklich gestiegen. Besonders lang sind die Wartezeiten in den Bereichen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Neurologie.
- Im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie wartet man im Jahr 2024 im Median-Vergleich* 90 Tage.
- Um einen Termin bei einer neurologischen Facharztpraxis zu erhalten, wartete man im Jahr 2012 33 Tage, 2024 sind es bereits 45 Tage.
- Der Mangel an Gynäkologinnen und Gynäkologen im Kassensystem in Wien spiegelt sich auch in der Erhebung wider. Aktuell wartet man 32 Tage auf einen Termin – 2012 waren es noch 8 Tage.
- Auch in den Fachbereichen der Augenheilkunde (2012: 9, 2024: 44 Tage), Dermatologie (2012: 7 Tage, 2024: 28 Tage), Radiologie (2012: 32 Tage, 2024: 57 Tage), Pulmologie (2012: 5 Tage, 2024: 36 Tage) und Innere Medizin (2012: 12 Tage, 2024: 33 Tage) dauert es im Kassensystem immer länger, um an einen Termin zu kommen.
- Fachrichtungen, in denen überdurchschnittlich keine neuen Patientinnen und Patienten mehr aufgenommen werden, sind Gynäkologie und Frauenheilkunde, Kinder- und Jugendheilkunde, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychiatrie. Auch rund jede dritte Allgemeinmedizinische Ordination kann keine neuen Patientinnen und Patienten mehr aufnehmen.
- Mehr als die Hälfte (54 Prozent) der Kassenmedizinerinnen und -medizinern für Kinder- und Jugendheilkunde kann aufgrund der Auslastung keine neuen Patientinnen und Patienten mehr aufnehmen. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind es 40 Prozent und in der Gynäkologie und Frauenheilkunde 30 Prozent, die keine Neuaufnahmen aufgrund der massiven Auslastung stemmen können.
*Hinweis: Wartezeiten sind im Median-Vergleich dargestellt: Der Median wird oft verwendet, um einen zentralen Wert einer Datenreihe zu beschreiben, insbesondere wenn die Verteilung der Daten Ausreißer enthält, die den Mittelwert verzerren könnten. Er bietet einen robusteren Indikator für die zentrale Tendenz als der Mittelwert, wenn die Datenverteilung stark asymmetrisch ist.
Ärztekammer für Wien startet Initiative „Auf geht’s“
Wien ist seit 2012 um 16 Prozent gewachsen, die Anzahl der Kassenärztinnen und -ärzte ist seitdem um 12 Prozent gesunken. Wie findet man nun den Weg aus der Negativspirale? Wie können wir der Zwei-Klassen-Medizin wirksam entgegenwirken und die bestmögliche Versorgung der Patientinnen und Patienten langfristig absichern?
„Um die Wartezeiten für die Patientinnen und Patienten massiv zu verringern, braucht es endlich eine Aufwertung unseres solidarischen Gesundheitssystems. Wir fordern umgehend eine Attraktivierung und bedarfsorientierte Finanzierung des Kassenbereichs. Mit einer Ausweitung der Kassenstellen stehen mehr Kapazitäten und damit rasche Facharzttermine zur Verfügung. Durch Modernisierung und Verbesserung der Kassenverträge werden diese besetzt werden können. Das wird die Wartezeiten massiv verkürzen und den Patientinnen und Patienten zu Gute kommen. Mit der Patientenmilliarde, die wir mittlerweile allein für Wien benötigen würden, könnten wir einen entscheidenden Schritt setzen und unser Gesundheitssystem auf Zukunftskurs bringen. Anstatt der Wahlärzteschaft mit Zwängen zu drohen, braucht es eine Zukunftsoffensive für unser Kassensystem,“ sagt Naghme Kamaleyan-Schmied, Vizepräsidentin und Kurienobfrau der niedergelassenen Ärzte in der Ärztekammer für Wien.
2024, im Jahr der Gesundheit mit den anstehenden Wahlen, präsentiert die Ärztekammer für Wien den wirksamen Forderungskatalog „Auf geht’s! – in eine sichere Gesundheitsversorgung“.
- Attraktivierung und bessere Finanzierung: der Startbonus über 100.000 Euro muss für alle offenen Kassenstellen gelten, vor allem in den Mangelfächern braucht es neue Anreize und die Umsetzung der Patientenmilliarde. Die Bedarfserhebung der Planstellen im Kassensystem muss laufend umgesetzt werden (aktuell wird noch immer mit Zahlen aus 2016 geplant), Medikamentenabgabe direkt in den Ordinationen ermöglichen.
- Unterstützung beim Gründungsprozess – Lösung der Problematik der „unechten Umsatzsteuerbefreiung“, schwierige Immobilien- und Personalsuche, mehr Unterstützung durch die Stadt und die Sozialversicherungen notwendig, bessere Förderungen bei Immobilien.
- Flexibilisierung – moderne Arbeitsmodelle fördern und den Praxisalltag an Lebensrealitäten der Menschen anpassen: Flexiblere Teilung von Kassenverträgen (Teilzeitkassenverträge), Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf, Familienförderung (Stichwort Vormittagsordination); bedarfsorientierter Einsatz der Versorgungslösungen: flexiblere Öffnungszeiten – beispielsweise längere Öffnungszeiten während der Erkältungswelle, im Sommer dafür verkürzen. „Längere Öffnungszeiten“-Bonus – attraktiver Anreiz für Hausärztinnen und -ärzte, um erweiterte Öffnungszeiten für Patientinnen und Patienten anbieten zu können – weiter stärken.
- Gemeinschaftspraxis – interdisziplinäre Praxen fördern – Einbindung von Gesundheitsberufen und Sozialberufen auch in Einzelpraxen ermöglichen. PVE-Möglichkeiten auch für Einzelpraxen schaffen. Gesundheitszentren auch für andere Fachrichtungen analog der etablierten Kinder-PVEs, wie z.B. Gynäkologie-Zentren, Psychiatrie-Zentren (Facharztversorgung mit anderen spezialisierten Gesundheitsberufen).
- Entbürokratisierung der täglichen Arbeit in der Ordination – Medikamentenbewilligung erleichtern, „Nacharbeiten“ honorieren, administrative Tätigkeiten etwa in Pflegeheimen honorieren. Entfall der Chefarztpflicht.
- Honorierung – fair, leistungsgerecht, einheitlich (z.B. Vorsorgeuntersuchung und Zuwendungsmedizin müssen höheren Stellenwert erhalten). Erweiterung des Leistungskataloges um moderne Leistungen, um die Niederlassung attraktiver zu machen und die bestmögliche Medizin anzubieten. Gewisse Untersuchungen wie IVOMs (Injektionen bei Maculadegeneration), Kataraktoperationen, Dermatochirurgie, Schilddrüsen-Szintigraphien oder Venenutralschalls uvm. werden noch immer nicht von der Krankenkasse getragen. Manche Fachrichtungen gibt es nur im Spital, obwohl sie ambulant versorgt werden könnten (z.B: Onkologie, Strahlentherapie, Nuklearmedizin, Anästhesie). Zuwendungsmedizin (z.B. Therapeutische Aussprache) muss endlich unlimitiert honoriert werden, Sprachproblematik aufgrund des Familienzuzuges – Stichwort Zurverfügungstellung von Dolmetschsystemen.
- Telemedizin – innovativ und mit höchsten Sicherheitsstandards.
- Spitals-Auslagerungen und -Entlastungen im niedergelassenen Bereich gut strukturieren, geplant und mit ausreichenden Ressourcen weiter forcieren.
Ärztekammer für Wien übergibt Notfallkoffer an die Politik
Im Herbst wird der Nationalrat gewählt, 2025 der Wiener Landtag und es werden die Weichen für die Gesundheitspolitik gestellt. Unser Gesundheitssystem, das Jahrzehnte als das beste der Welt galt, steht an der Kippe. Denn Wien und Österreich sind neben dem Rückgang an Kassenärztinnen und -ärzten seit Jahren mit der Entwicklung einer immer älter werdenden und in Wien besonders stark wachsenden Bevölkerung konfrontiert. Ein gefährliches Ungleichgewicht, das unbedingt behoben werden muss: „Dieser Notfallkoffer mit unserem Forderungskatalog für eine zukunftssichere Gesundheitsversorgung ist wirksam und wird rasch für Entlastung bei den Patientinnen und Patienten sorgen. Menschen, die jahrelang einen großen Teil ihres Einkommens in unser solidarisches Gesundheitssystem einzahlen bzw. eingezahlt haben, müssen ein Recht auf die bestmögliche Versorgung haben! Es geht um das Wohl der Patientinnen und Patienten und das muss die oberste Prämisse der Politik sein. Wir fordern die Verantwortlichen der Bundesregierung, der Stadt Wien und der Sozialversicherung zum Handeln auf“, appellieren Präsident Johannes Steinhart und Vizepräsidentin Naghme Kamaleyan-Schmied an die Politik.