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Präsentation der Umfrage Gewalt im medizinischen Arbeitsalltag

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Präsentation der Umfrage Gewalt im medizinischen Arbeitsalltag

„Die Ergebnisse der Umfrage sind schockierend und müssen uns alle alarmieren. Mehr als die Hälfte der Ärztinnen und Ärzte hat bereits Gewalt im Berufsalltag erfahren. Viele fühlen sich an ihrem Arbeitsplatz nicht mehr sicher. Die Hemmschwelle für aggressives Verhalten sinkt und die Gewaltbereitschaft nimmt zu. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das wir nicht tolerieren dürfen.“

Johannes Steinhart, Präsident der Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien 

Wir erleben derzeit in vielen gesellschaftlichen Bereichen eine Verrohung, die leider auch Ärztinnen und Ärzte, das Praxispersonal, Pflegekräfte und viele weitere Gesundheitsberufe in ihrer täglichen Arbeit zu spüren bekommen. 

Als Ärztevertretung hat uns besonders interessiert, inwieweit Ärztinnen und Ärzte im Spital oder in Ordinationen Gewalt oder Gewaltandrohung durch Patienten und ihre Angehörigen ausgesetzt sind. Eine von uns beauftragte Umfrage des Meinungsforschers Peter Hajek unter 1.102 Ärztinnen und Ärzte in Wien zu diesem Thema zeichnet ein düsteres Bild.

Mehr als die Hälfte der Befragten war in den vergangenen zwei Jahren bei der Ausübung ihres Berufes verbaler Gewalt ausgesetzt, ein Viertel musste psychische Gewalt erleiden, 16 Prozent haben sogar schon körperliche Gewalt erfahren. Für viele Ärztinnen und Ärzte gehört Aggression fast schon zum Arbeitsalltag: 37 Prozent der Betroffenen berichten von regelmäßigen Gewalterfahrungen.

Gründe für solche Entgleisungen sind laut den Befragten vor allem lange Wartezeiten, überlaufene Praxen und Spitäler sowie der anhaltende Personalmangel.

Präsident Johannes Steinhart: „Diese Umfrageergebnisse sind ein erschütternder Befund. Gewalterfahrungen haben oft schwerwiegende Folgen für die Beschäftigten, wie zunehmende psychische Unsicherheiten bis hin zu negativen Auswirkungen auf das Privatleben. Es darf nicht sein, dass Ärztinnen und Ärzte mit einem mulmigen Gefühl zu ihrer Arbeit in Spitäler oder Ordinationen gehen, aus Angst vor der nächsten möglichen Ausschreitung. Gewalt gegen in der Gesundheitsversorgung Arbeitende ist aber nicht nur ein Angriff auf deren seelische und körperliche Unversehrtheit, sondern auch ein Angriff auf das Gesundheitssystem generell. Sind dort Tätige aus Angst vor Übergriffen psychisch belastet oder ziehen sich gänzlich aus ihrem Beruf zurück, dann schädigt das auch die Versorgung.

Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Als Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien kümmern wir uns um betroffene Kolleginnen und Kollegen, setzen Maßnahmen und schaffen Bewusstsein. Ein sicherer Arbeitsplatz für Ärztinnen und Ärzte hat für uns oberste Priorität, und die sollte er für alle haben. Wir müssen hinschauen und handeln. Deshalb solidarisieren wir uns auch mit der Aktion ‚16 Tage gegen Gewalt an Frauen‘, die Bewusstsein schafft und auf die Folgen von Gewalt aufmerksam machen möchte.

Aber klar ist auch: Die Ärztevertretung alleine kann das Problem nicht lösen. Es muss gemeinsam ein gesellschaftliches Klima der Ächtung von Gewalt geschaffen werden. Ermittlungsbehörden und Gerichte müssen die rechtlichen Möglichkeiten voll ausnutzen und Übergriffe konsequent verfolgen und bestrafen. Die Politik muss Verantwortung übernehmen und konkrete Schritte setzen, um die Bedingungen im Gesundheitssystem zu verbessern. Es braucht mehr Kassenstellen, zusätzliches Personal und spürbare Entlastung in den Spitälern und Ordinationen. Nur so kann die angespannte Lage entschärft und das Gesundheitssystem wieder zu einem sicheren Ort für alle gemacht werden – für Ärztinnen und Ärzte, das gesamte medizinische Personal und für Patientinnen und Patienten.“

Vizepräsidentin Naghme Kamaleyan-Schmied: „Verbale Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte gehört fast schon zum Arbeitsalltag, aber auch körperliche Gewalt nimmt zu. Das ist schockierend und muss uns alle wachrütteln. Die Aggression ist ein Symptom für ein krankes Gesundheitssystem. Sie ist Ausdruck der Unzufriedenheit der Patientinnen und Patienten mit einem Gesundheitssystem, das für viele gefühlt nicht mehr der Anker ist, den sie brauchen, wenn es ihnen schlecht geht. Wenn die Wartezeiten immer länger werden und Ärztinnen und Ärzte immer weniger Zeit für ihre Patientinnen und Patienten haben, sehen die Menschen oft die Schuld bei den Medizinerinnen und Medizinern und lassen ihren Frust bei diesen aus. Teilweise sind wir genauso frustriert über dieses System wie unsere Patientinnen und Patienten. Wir müssen über Missstände offen sprechen. Erst wenn wir das Gesundheitssystem wieder strukturell verbessern, verschwinden auch die Symptome. Ich sehe jeden Tag, wie frustrierend dieses System für beide Seiten sein kann. Für Gewalt ist aber gerade in den sensiblen Bereich wie der Medizin kein Platz. Schaffen wir Bewusstsein und handeln wir jetzt.

Vorschläge für eine Verbesserung des Gesundheitswesens liegen schon lange auf dem Tisch. Es muss die Stärkung des niedergelassenen Bereichs mit einer entsprechenden Attraktivierung der Kassenmedizin endlich umgesetzt werden – so gelingt es uns, die Frustration zu verringern.
Wir als Standesvertretung stehen Ärztinnen und Ärzten zur Seite, wenn sie Opfer von Gewalt werden, und unterstützen sie. Mit der Ombudsstelle für Mobbing, Gewalt, Sexismus und Rassismus bieten wir konkrete Unterstützung an. Wenn es nötig ist, steht die Kammer auch mit juristischer Hilfe zur Seite. Auch die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) bietet eine Beratungsstelle für Kassenärztinnen und -ärzte, bei der aggressive Verhalten von Patientinnen und Patienten gemeldet werden kann. Zudem gibt es ab sofort auch ein Plakat für Ärztinnen und Ärzte, mit dem wir klar aufzeigen, dass es im medizinischen Bereich keinen Platz für Gewalt oder aggressives Verhalten gibt. Dieses Plakat steht allen Ärztinnen und Ärzten kostenlos zum Download zur Verfügung, um es in Ordinationen aufzuhängen.
Wir legen Wert auf einen respektvollen Umgang miteinander.

Gesundheitseinrichtungen verdienen einen besonderen Schutz. Auch die Exekutive muss uns hier zur Seite stehen und rasch Hilfe bieten, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Patientinnen und Patienten zu schützen. Hierfür braucht es die Unterstützung der Politik, um diesen besonders sensiblen Bereich entsprechend Schutz zukommen zu lassen. Wir dürfen mit diesem Problem nicht allein gelassen werden.“

Vizepräsidentin Natalja Haninger-Vacariu: „Jede Gewalttat in einem der Wiener Spitäler ist eine zu viel. Leider sind Ärztinnen und Ärzte im Wiener Gesundheitsverbund besonders häufig von Gewalt betroffen. Dass Ärztinnen und Ärzte sowie das Pflegepersonal gefährlich bedroht oder sogar tätlich angegriffen werden, während sie Patientinnen und Patienten bestmöglich betreuen, dürfen wir als Gesellschaft nicht hinnehmen. Der Druck auf das Gesundheitspersonal im Spital ist enorm. Medizinerinnen und Mediziner gehen täglich aufgrund der hohen Arbeitsverdichtung und des stark gestiegenen bürokratischen Aufwands an ihre Belastungsgrenzen. Zugleich wird die Zeit für die Behandlung der Patientinnen und Patienten sowie für Gespräche mit Angehörigen immer knapper.

Durch die langen Wartezeiten und den Personalmangel wird das Verständnis der Patientinnen und Patienten auf eine harte Probe gestellt. Dies erklärt zwar die angespannte Situation, entschuldigt jedoch in keiner Weise Angriffe jeglicher Art oder Drohungen gegen das medizinische Personal. Die Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien setzt bereits Schritte – von Deeskalationsseminaren bis hin zu einer Erstanlaufstelle bei Hass im Netz und Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte. Auch einige Spitalsträger haben reagiert und zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen installiert. Doch das reicht nicht aus: Es braucht dringend weitere Maßnahmen und einen Schulterschluss mit der Politik, denn es ist nicht zielführend die helfende Hand zu beißen.

Die Erhebung und Evaluierung jedes einzelnen Falles von Aggression und Gewalt gegen angestellte Ärztinnen und Ärzte muss durch den Arbeitgeber sorgfältig erfolgen und zukünftig entsprechend verhindert werden. Zudem muss die seit längerem bestehende Ombudsstelle für Mobbing, Gewalt, Sexismus und Rassismus der Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien aktiv als Meldestelle beworben werden. Arbeitgeber müssen Deeskalationsseminare anbieten, um Ärztinnen und Ärzten optimale Instrumente zur Konfliktlösung zu geben. Bei den Spitalsträgern muss das Bewusstsein geschärft werden, um insbesondere junge Kolleginnen und Kollegen zu schützen. Übergriffe dürfen keinesfalls verharmlost werden. Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass wir oft mit heftigen Emotionen konfrontiert sind, die wir bestmöglich auffangen. Dies gelingt oftmals gut, in einigen Fällen jedoch leider nicht. Daher braucht es flächendeckenden Schutz in allen Wiener Spitälern, um sowohl den Beschäftigten als auch den Patientinnen und Patienten Sicherheit zu bieten. Zudem brauchen wir rasch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, mehr Personal und einen Bürokratieabbau. Wenn wir die Wartezeiten verkürzen und die Zeit, die Ärztinnen und Ärzte mit der Behandlung von Patientinnen und Patienten verbringen, verlängern, wird sich das positiv auswirken und zu einem Spannungsabbau führen.“

Peter Hajek: „Dass Ärztinnen und Ärzte sowohl im Spitalsbereich als auch in der Ordination mit Gewalt konfrontiert sein würden, war zu erwarten. Denn dort wo es menschliche Interaktion gibt, ist Gewalt, in welcher Form auch immer, leider ein Thema. Dass aber nur ein Drittel angibt, in den letzten zwei Jahren keine verbale, psychische oder physische Gewalt erlebt zu haben, erstaunte dann doch.“

Die Ergebnisse der Umfrage im Detail

  • Mehr als die Hälfte (55 Prozent) der 1.102 befragten Ärztinnen und Ärzte war in den vergangenen zwei Jahren verbaler Gewalt und ein Viertel (24 Prozent) psychischer Gewalt ausgesetzt. 16 Prozent haben in ihrem Arbeitsalltag körperliche Gewalt erleben müssen. Mehr als ein Drittel (37 Prozent) der Beschäftigten im Gesundheitswesen ist regelmäßig von Gewalt betroffen.
  • Vor allem Ärztinnen und Ärzte in den Spitälern berichten von Gewalterfahrungen (60 Prozent), aber auch in den Ordinationen (30 Prozent) kommt es immer wieder zu Vorfällen von Gewalt.
  • Als Hauptursache für Aggression und Gewalt gelten lange Wartezeiten, überlaufene Praxen und Spitäler sowie der eklatante Personalmangel (78 Prozent). 71 Prozent orten einen generellen Anstieg der Aggressionen in der Gesellschaft.
  • Mehr als die Hälfte der Ärztinnen und Ärzte leidet bereits unter psychischer Unsicherheit (55 Prozent). Bei einem Drittel (32 Prozent) haben Aggression und Gewalt am Arbeitsplatz negative Auswirkungen auf das Privatleben.
  • Die überwiegende Mehrheit (68 Prozent) wünscht sich, dass zusätzliche Maßnahmen gegen Gewalt am Arbeitsplatz ergriffen werden.

Die Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien fordert zum Handeln auf: 

Die Ergebnisse der Studie zeigen: Es muss dringend gehandelt werden, damit sich Ärztinnen und Ärzte, das Pflegepersonal sowie Patientinnen und Patienten wieder sicher fühlen. Diejenigen, die sich täglich um Kranke kümmern, bedürfen unseres besonderen Schutzes und dürfen nicht länger Aggression und Gewalt ausgesetzt sein. Die Politik ist gefordert, Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation in den Spitälern und Ordinationen zu entschärfen. Wir sehen in unserer täglichen Arbeit, wo die Brennpunkte sind. Unsere Forderungen können helfen, die angespannte Situation zu entschärfen und das Gesundheitssystem wieder zu einem sicheren Ort für die Beschäftigen sowie Patientinnen und Patienten zu machen: 

  • Die Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien fordert österreichweit mindestens 1.000 zusätzliche Kassenplanstellen, um Wartezeiten zu verkürzen, damit Ärztinnen und Ärzte wieder mehr Zeit für die Behandlung der Patientinnen und Patienten haben. 
  • Es braucht in den Wiener Spitälern dringend eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie mehr Personal, um Wartezeiten auf Operationen zu reduzieren.
  • Die Politik ist gefordert, Maßnahmen zu erarbeiten, die ein gewaltfreies Arbeiten sicherstellen und dringend mehr Bewusstsein für das Thema Gewaltschutz in der Medizin schaffen.
  • Bei den Spitalsträgern muss das Bewusstsein geschärft werden. Übergriffe dürfen nicht verharmlost werden.
  • Besonderer Schutz von Gesundheitseinrichtungen durch die Exekutive.
  • Notfallalarmknöpfe, wie sie in Spitälern bereits eingesetzt werden, müssen auch für Ordinationen einfach zugänglich gemacht werden. 
  • Es braucht massive Investitionen in das Gesundheitssystem, um das kränkelnde Gesundheitssystem wieder fit zu bekommen.
  • Spitalsträger müssen Deeskalationsseminare anbieten, um Ärztinnen und Ärzte Instrumente zur Konfliktlösung zur Verfügung zu stellen. 
  • Jeder Fall von Aggression und Gewalt muss sorgfältig erhoben und evaluiert werden. 

„Aggression und Gewalt dürfen keinen Platz in unseren Ordinationen und Spitälern haben“, appellieren Präsident Johannes Steinhart sowie die Vizepräsidentinnen Naghme Kamaleyan-Schmied und Natalja Haninger-Vacariu.